
Preisverleihung 2018
- Peter Steudtner (links), Matthias Coers, Foto: Stephan Röhl
"The Silence of Others"
von Almudena Carracedo und Robert Bahar, USA / Spanien 2018
Die Laudatio der Jury:
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Fans des Friedensfilmpreises!
Auch von Seiten der Jury ein herzliches Willkommen zur Verleihung des 33. Friedensfilmpreises im Rahmen der 68. Berlinale, vergeben von der Friedensinitiative Zehlendorf, der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Weltfriedensdienst.
Wir haben die Ehre im Namen der diesjährigen Jury mit dem Friedensfilmpreis den spanisch-US-amerikanischen Dokumentarfilm "The Silence of Others" auszuzeichnen! Herzlichen Glückwunsch an die Filmemacher*innen Almudena Carracedo, Robert Bahar und vor allem auch an ihr Team und die Protagonist*innen des Films!
Vor fast zehn Jahren machte uns Chimamanda Adichie mit dem beachtenswerten TED-Talk "The Danger of a Single Story" auf die Gefahr der einseitigen Geschichten aufmerksam. Was aber tun, wenn "die Gefahr der Geschichtenlosigkeit, des Schweigens" Wirklichkeit wird – "The Danger of No Story"? Genau dieser Realität setzt der Film "The Silence of Others" entgegen: Geschichte muss heißen, Geschichten zu erzählen.
Vor über 40 Jahren wurde dem spanischen Volk per Amnestie-Gesetz – mit dem sogenannten "Pacto del Olvido" – das Vergessen und Schweigen über die im Franquismo begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auferlegt. Und das, nachdem zuvor große Teile der Bevölkerung in 40 Jahren Franco-Diktatur unter einem autoritären politischen System gelitten hatten. Die Gesellschaft hatte weder die Möglichkeit noch die Kraft, sich vom elitären Franquismus selber zu befreien, erst der Tod des greisen Herrschers machte eine politische Öffnung und Modernisierung, die "transición", möglich.
Mit parlamentarischen Mitteln wurde hier öffentliche Erinnerung verunmöglicht, ähnlich wie Franco und das Militär in den unmittelbaren Jahren nach dem Sieg von Francos Militär über die Republik schon einmal Vergessen staatlich durchgesetzt hatten, allerdings mit den faschistischen Mitteln der Auslöschung, der vollkommenen Unterwerfung und Vertreibung der Gegner*innen. Die Geschichte sollte von den Siegern geschrieben sein, die emanzipatorischen Potentiale der Republik aus dem Bewusstsein gedrängt werden.
Über die gesamte Zeit des Franquismus war keine Auseinandersetzung mit den Verbrechen, kein gesellschaftlicher Dialog möglich. Es muss für die vielen Menschen und ihre Familien, die im Bürgerkrieg grausames Leid erfahren haben, eine unfassbare Enttäuschung und Entmutigung gewesen sein, dass die Zeit nach der Diktatur im nun modernen Spanien der nächsten 40 Jahre nicht dafür genutzt werden konnte, diese traumatischen Erfahrungen kollektiv aufzuarbeiten. Durch das angeordnete Schweigen wurde die Gewalt fortgeführt. Dies spiegelte sich nicht zuletzt auch in den Kontinuitäten des Franquismus in den öffentlichen Institutionen wider.
Was kann der Film dem entgegensetzen?
Der Film begleitet die Protagonist*innen, wie sie einen friedenspolitischen Prozess anstoßen und gestalten, dabei ergänzen und potenzieren sich dieser zivilgesellschaftliche Prozess und der Film. Der Film erscheint wie ein Werkzeug des Wandels und des Empowerments, das dem Staat und der Bevölkerung den Spiegel vorhält.
Es sind die Hinterbliebenen, die Gefolterten und die ihrer Kinder Beraubten, die den Schmerz nicht aufgegeben haben, nicht aufgeben konnten, und so die Energie aufbrachten, die Erinnerung in sich und ihren Kreisen zu formulieren und wachzuhalten. Der Schmerz über die Verbrechen und seine Verdoppelung durch das Vergessen – die Nicht-Anerkennung – sind der Treibstoff, der es den Subjekten möglich macht, sich politisch zu artikulieren. Aus dem Persönlichen wird Öffentliches, der schweigenden Gesellschaft wird das Wachs aus den Ohren gezogen. In der Tabuisierung des Leidens und im Verdrängen liegt die Aggression, zu der die Gesellschaft bereit war und ist: Den Tagesgeschäften soll ungestört Richtung Zukunft nachgegangen werden können.
Der Film zeigt feinfühlig, wie die das Leid Beklagenden sich immer bei einem Kampf um Gerechtigkeit mit dem Vorwurf des unruhestiftenden, nach Rache sinnenden Anklagenden konfrontiert sehen. Die, die Verbrechen begangen haben, oder die, die Verbrechen verdrängen, wollen nicht durch die Opfer mit ihren Untaten konfrontiert werden. Die Klagenden moralisch zu delegetimieren ist durch den Pakt des Schweigens auch im demokratischen Spanien Jahrzehnte gelungen. Erst durch ein weltweit zunehmendes Bewusstsein der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Internationalisierung der Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzungen in der jüngsten Geschichte hat sich auch für Spanien die Möglichkeit ergeben, die verdrängten Geschehnisse überhaupt justiziabel zu machen. Nur durch die Kraft und Selbsttätigkeit derer, die Gerechtigkeit verlangen, und nur durch den klugen Einsatz der Justiz – hier der argentinischen – gelingt es, die spanischen Institutionen unter Druck zu setzen, sich einem Prozess der Wahrheitsfindung – und damit einer Grundlage für eine eventuelle Versöhnung – überhaupt zu öffnen. Dabei macht der Film das Plädoyer der Protagonist*innen deutlich: Selbstjustiz ist keine Option – internationale Rechtstaatlichkeit und Justiz sind die Mittel der Wahl.
Dabei wird auch sichtbar, wie langsam diese Prozesse sind, wie langsam die Mühlen der juristischen Gerechtigkeit mahlen und wie schnell die Sanduhr der Lebenszeit der Opfer und Überlebenden läuft, die zum allergrößten Teil schon im letzten Drittel ihres Lebens angekommen sind.
Viele Aktive haben ihr ganzes Leben mit den Schmerzen verbracht. Unter Einsatz ihrer gesamten Zeit setzen sie sich auch ein für all die, die ohne Hoffnung auf Gerechtigkeit, Anerkennung und Wiedergutmachung der spanischen Gesellschaft bereits verstorben sind. Dabei schafft es der Film, in den kleinsten Dingen zu transportieren, was diese juristischen Schritte für eine Bedeutung für die Portraitierten haben.
Warum ist der Film über Spanien hinaus relevant?
Bei aller Nähe – die durch Kamera und Ton eindeutig und überzeugend herüberkommt und die Spannung bis zur letzten Minute aufrechterhält – macht der Film jedoch auch über die Spanische Bewegung gegen das Vergessen hinaus deutlich, wie wesentlich Erinnerungskultur und Geduld für demokratische und demokratisierende Prozesse sind, die einen wesentlichen Teil des Friedens in Europa ausmachen.
Wer sich dem Erinnern verweigert, ist verführbar. Er oder sie kann von Menschenfeinden und Kriegstreibern benutzt werden. Der Schlüssel zum Frieden in Europa war immer auch die Erinnerung und das Sich-seiner-Schuld-stellen.
Und bei aller Geduld und Vertrauen auf demokratische Prozesse braucht es die Mutigen und auch Unnachgiebigen, die nicht schweigen, sondern vorangehen, eine Erinnerungskultur zu etablieren – die eigentlich im Interesse aller sein sollte.
Selbst, wenn ein Großteil der Täter, Opfer und Überlebenden schon nicht mehr am Leben sind, ist bewusstes Erinnern für die Nachfolgegeneration und auch alle Nachgeborenen von Belang – wenn es im Alltag der Dörfer und Städte ein respektvolles, gemeinsames Miteinander ohne die Herrschaft der Schatten der Vergangenheit geben soll.
Motivierend zeigt der Film, dass es auch als kleine Minderheit möglich ist, Entwicklungen und wesentliche Veränderungen in einer Gesellschaft anzustoßen.
Aufarbeitung und Gerechtigkeit sind Friedensgrundlagen – im Gegensatz zum "Pakt des Vergessens". Dies macht der Film sowohl für den inneren, individuellen oder familiären Frieden als auch für den Frieden in einer Gesellschaft deutlich. Versöhnung ist nur möglich, wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verdrängt werden. Versöhnung gelingt nur, wenn die Täter*innen ihre Taten bekennen und bereuen. Gesellschaftliches Schweigen wie durch den "Pakt des Vergessens" legitimiert die vorherige Gewalt und wird selbst zu Gewalt. Dem entgegen stehen die im Film portraitierten gewaltfreien und juristischen Mittel der Friedensarbeit.
In Zeiten aufflammenden Rechtspopulismuses setzt der Film ein klares Zeichen gegen faschistoide Vorstellungen und Strukturen. Dieses Zeichen wird getragen durch eine kleine Gruppe, die es schafft, eine landesweite soziale Bewegung zu initiieren und zu motivieren. Dabei geht es um den Willen zur Wahrheitsfindung und Anerkennung der vielfältigen Schmerzen, die mit diesen Menschenrechtsverletzungen einhergehen – und nicht um individuelle Rache.
Warum dieser Preis für diesen Film?
Mit der Verleihung des Friedensfilmpreises wollen wir nicht nur unsere Anerkennung für die hervorragende handwerkliche Arbeit dieses künstlerisch-dokumentarischen Werkes zollen, sondern ganz direkt auch die gewaltfreie Aufarbeitungsbewegung in Spanien stärken, dabei unsere Solidarität und Bewegtheit zeigen und gleichzeitig aber beim Blick nach Spanien unsere Realitäten hier nicht übersehen oder verdrängen.
Die jüngere Geschichte in Europa und weltweit ist durchzogen von ignorantem und abschätzigem Denken gegenüber anderen, von verbrecherischen und unmenschlichen Handlungen – hier kann das erst einmal bescheidene Beispiel der kleinen Gruppe der spanischen Aktivist*innen auch an anderen Orten Menschen ermutigen, für Gerechtigkeit einzustehen. Solch ein Film ist eben auch eine Flaschenpost, die es möglich macht, ohne dass man voneinander weiß, Erfahrenes und Ermutigendes auszutauschen. Damit der Film seine Wirkung als Werkzeug des Friedens entfalten kann, wünschen wir ihm, dass viele Filmvorführungen und damit verbundene Veranstaltungen in spanischen Städten und Gemeinden abgehalten werden können, um die Bewegung gegen den "Pacto del Olvido", den Pakt des Vergessens, zu stärken. Wir hoffen, dass der Film Aufmerksamkeit erfährt, so dass auch die älteren Überlebenden die Entfaltung des Aufarbeitungsprozesses und juristische Gerechtigkeit noch werden erfahren können. Sich erinnern, sich gegenseitig erinnern, sich gegenseitig stärken, die Erinnerungen zu bewahren, zu entdecken und auszuhalten, ist aktive demokratische, mitmenschliche Arbeit, Friedensarbeit.
Vielen Dank an die Bewegung gegen das Vergessen und vielen Dank an die Filmemacher*innen Almudena Carracedo, Robert Bahar und das Filmteam, die uns diese Friedensarbeit zeigen und uns alle motivieren, aktiv zu werden!
Die von der Friedensfilmpreis-Jury verfasste Laudatio wurde in den Hackeschen Höfen im Rahmen der Preisverleihung von Peter Steudtner und Matthias Coers gehalten.
Jury-Mitglieder: Miraz Bezar, Helgard Gammert, Florian Hoffmann, Lena Müller, Burhan Qurbani, Matthias Coers, Peter Steudtner.
Der 33. Friedensfilmpreis bei der 68. Berlinale geht an
"The Silence of Others" von Almudena Carracedo und Robert Bahar
USA / Spanien 2018
Der Preis ist mit 5.000 € dotiert und wird in Form einer von Otmar Alt geschaffenen Bronzeplastik übergeben. 2018 zum 33. Mal in direkter Folge.
Die Verleihung findet statt am 25. Februar 2018, 17 Uhr im Hackeschen Höfe Kino, Berlin.
Der Friedensfilmpreis wird von einem Trägerkreis aus zivilgesellschaftlichen Gruppen organisiert. Er besteht derzeit aus der Heinrich-Böll-Stiftung, der Friedensinitiative Zehlendorf und dem Weltfriedensdienst.
Die Friedensfilmpreis-Jury 2018
- Foto (C): Stefan Röhl
