
Der 32. Friedensfilmpreis bei der Berlinale geht an
El Pacto de Adriana (Adrianas Pact)
von Lissette Orozco, Chile 2017, 96‘, Dokumentarfilm
Laudatio der Jury zu El Pacto de Adriana
- Friedensfilmpreis Jury 2017
Guten Abend sehr geehrte Damen und Herren,
einer der größten Widersacher des Friedens ist das Schweigen.
Wir schweigen aus Scham, Angst, und dem Wunsch heraus, die Vergangenheit umzudeuten. Uns selbst eine andere Geschichte zu geben. Eine Auseinandersetzung ist mit Schweigen aber nicht möglich. So halten Kriege an, lange nachdem sie offiziell ihr Ende gefunden haben. Trotz gestürzter Diktatoren leben die Gräueltaten eines Regimes weiter. Das Schweigen steht der Konfrontation und Aufarbeitung im Weg. Es macht den Neuanfang zunichte.
Mit „El Pacto de Adriana (Adriana’s Pact)“ haben wir in diesem Jahr einen Film ausgezeichnet, deren Regisseurin das Schweigen nicht hinnimmt. Sie nutzt das Medium, um sichtbar zu machen und zum Reden aufzufordern. Ihrer geliebten Tante Adriana wird vorgeworfen, während des Pinochet Regimes mehr als nur eine Sekretärin gewesen zu sein. Lissette Orozco beginnt mit der Kamera ihre eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten. Im ständigen Zwiespalt zwischen Loyalität und Zweifel geht die Filmemacherin einem ebenso alten wie hochaktuellen Thema nach:
Was ist Wahrheit, wenn jeder denkt, seine Fakten sind die einzigen, die stimmen?
Denn das Schweigen ist mehr als nur Nicht-Sprechen. Selektive Wahrnehmung und Erinnerung und parallele Realitäten sind ebenso ein Teil davon.
Die Offenheit der Regisseurin erstreckt sich auch auf den Prozess des Filmemachens an und für sich. So zeigt sie, wie sie sich zur Aufarbeitung der Familiengeschichte verschiedenster Medien bedient: Skype, News Footage, Projektion, etc. Durch diese Perspektivenverschiebungen gewinnt der Film nicht nur seine Spannung, er erzählt auch formal davon, was es bedeutet, in der heutigen Medienwelt nach Wahrheit zu suchen.
Die Regisseurin erlaubt uns Einblick in ihre eigene Zerrissenheit. Dadurch, dass sie bei sich selbst bleibt und keine Allgemeingültigkeit und kein Urteil in Anspruch nimmt, wird die Geschichte ihrer Familie universell.
Wie geht man damit um, dass einem nahestehenden Menschen schlimme Verbrechen vorgeworfen werden? In einer Szene im Film besucht Lisette Orozco eine Veranstaltung zu Ehren Pinochets. Ungläubig schweigend wird sie allerdings nicht bleiben. In ihrer Beharrlichkeit zeigt sie nach und nach auf, dass ein Mensch nie nur für sich die Verantwortung trägt, sondern auch für die kommenden Generationen. Mit welchen Fragen werden unsere Nichten, Neffen, Kinder, Enkel eines Tages an uns treten?
Die Regisseurin hetzt nicht. Sie fordert zu einem Dialog auf. „El Pacto de Adriana“ ist ein Friedensfilm, weil er den Frieden nicht nur als Zustand, sondern auch als Entscheidung begreift, die immer wieder aufs Neue getroffen werden muss und in der man nicht bequem werden darf. Die Entscheidung zu sagen: Lass uns nicht schweigen. Lass uns miteinander sprechen.
Dafür möchten wir Lisette Orozco und ihrem Team ganz herzlich danken und zum Preis gratulieren. Wir freuen uns darauf, den Film nun im Rahmen der Verleihung gemeinsam zu sehen.
Yael Inokai für die Friedensfilmpreis Jury 2017
Eröffnung der Friedensfilmpreisverleihung durch Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung
Sehr geehrte Gäste,
sehr geehrte Melisa Mirand, Carlo Nunez,
liebe Mitglieder der Jury,
meine Damen und Herren,
Seit die Heinrich Böll-Stiftung vor beinahe 20 Jahren in den Trägerkreis des Friedensfilmpreises eingetreten ist, habe ich die Ehre, die Preisverleihung zu eröffnen.
Zur Routine ist mir das über die Jahre nie geworden - dafür waren die Zeiten zu stürmisch, die Debatten rund um diesen Preis zu kontrovers (oft auch innerhalb des Trägerkreises) und die preisgekrönten Filme zu interessant. Und doch ist das heute für mich ein besonderer Tag – es ist das letzte Mal, dass ich hier in meiner Eigenschaft als Vorstand der Stiftung stehe.
Ich habe deshalb ein wenig in meiner Erinnerung gekramt und in den Archiven geblättert. Führt man sich die preisgekrönten Filme der letzten 20 Jahre vor Augen, entsteht daraus eine Art kollektives Gedächtnis, ein Archiv der Krisen, Kriege und Konflikte unserer Zeit. Sie handeln vom serbisch-kroatisch-bosnischen Krieg mit seinen ethnischen Säuberungen und Massakern; von den Kriegen in Afghanistan, im Irak und im Sudan; den gewaltsamen Konflikten zwischen Israel und seinen Nachbarn; von Menschenhandel und Gewalt gegen Frauen; von Flüchtlingslagern an den Randzonen des Krieges und der Suche nach einem besseren Leben in Westeuropa, die für viele Flüchtlinge tragisch endet.
Viele dieser Filme sind heute noch erschreckend aktuell.
Michael Winterbottoms Dokudrama „In this World“ – der Preisträger des Jahres 2003 – könnte auch heute spielen. Der Film erzählt die Geschichte zweier afghanischer Flüchtlinge, die dem Elend der Lager im pakistanischen Grenzgebiet entkommen wollen und sich auf den langen, gefährlichen Weg nach Europa machen. Wer ihn sieht, kann sich kaum der Einsicht verweigern, dass Stacheldraht und Greiftrupps keine Antwort auf das Flüchtlingsdrama sein können, das sich an unseren Grenzen abspielt.
Zugleich ist Winterbottoms Film ein Dokument des Versagens der europäischen Politik, die über viele Jahre hinweg die Augen vor dieser Herausforderung geschlossen hat. Man sollte ihn zur Pflichtveranstaltung für alle Abgeordneten und Minister machen.
Manche preisgekrönte Arbeiten sind stärker in Erinnerung geblieben, andere weniger. Fast allen ist aber gemeinsam, dass sie nicht nur die Schrecken der Welt zeigen: sie sind zugleich Zeugnisse der Hoffnung und der Ermutigung. Sie erzählen Geschichte von Menschenwürde, Solidarität und Mut inmitten schrecklicher Ereignisse. Und sie lösen die großen Konflikte in die Geschichte einzelner Menschen auf, geben ihnen ein Gesicht und eine Stimme.
Vielleicht ist das ihre wichtigste Botschaft. Filme können die Welt nicht verändern, aber sie können uns empfindsamer machen, Empathie erzeugen und demokratisches Handeln ermutigen. Das ist die wichtigste Funktion des Preises, den wir heute verleihen.
Als 1989/90 die Mauer fiel und Europa wiedervereinigt wurde, hofften viele, dass damit ein Zeitalter des Friedens beginnen würde. Heute wissen wir, dass das eine Illusion war. Der aggressive Nationalismus ist seither eher stärker geworden. Großmachtambitionen, ethnischer Hass, religiöser Fundamentalismus sind ebenso Treiber für Gewaltkonflikte wie der Kampf um knappe Ressourcen. Die Konfliktmuster sind zu vielfältig, um sie mit einfachen Antworten zu erledigen.
Vermutlich haben viele hier im Saal ein gemeinsames Grundgefühl: dass wir gegenwärtig an einem gefährlichen Punkt der globalen Entwicklung sind.
Das selbstbewusste Auftrumpfen autoritärer Regimes – darunter China, Russland, der Iran und neuerdings auch die Türkei – trifft sich mit dem Vormarsch autoritärer, nationalistischer und fremdenfeindlicher Kräfte in Europa und Amerika. In Washington haben sie sogar das Weiße Haus erobert, in Paris greift Marine Le Pen nach der Präsidentschaft. Die liberale Demokratie ist in Gefahr, und mit ihr die internationale Friedensordnung.
Während wir uns hier versammeln, findet in der Ukraine ein unerklärter Krieg statt, dem schon zehntausend Menschen zum Opfer gefallen sind. Mehr als 1,5 Millionen haben ihre Heimat verloren. Auch der völkermörderische Krieg in Syrien tobt weiter.
Auch wenn wir uns hilflos fühlen und keine einfachen Lösungen in Sicht sind: wir dürfen nicht wegschauen und nicht gleichgültig werden. Die Opfer des Krieges brauchen unsere Solidarität, und Europa muss aktiver werden, um politische Lösungen für die Konflikte in unserer Nachbarschaft zu finden.
So berechtigt der Zweifel am Sinn militärischer Interventionen ist – das Beispiel Syrien zeigt, dass auch Nicht-Handeln zur Eskalation der Gewalt beitragen kann. Wir müssen immer neu um den Weg ringen, wie Kriege verhindert oder zumindest gestoppt werden können.
Der Friedensfilmpreis war immer ein politischer Preis. Er wird weiter gebraucht – als Mahnung und als Anstoß zur Einmischung von unten.
Ich danke unseren Partnern bei diesem Unterfangen
Und jetzt Bühne frei für die Jury – und natürlich vor allem für die Preisträger des Friedensfilmpreises 2017. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
32. Friedensfilmpreis bei der Berlinale geht an
El Pacto de Adriana (Adrianas Pact)
von Lissette Orozco, Chile 2017, 96‘,
Dokumentarfilm
Lisette Orozco spürt in El Pacto de Adriana auf packende Weise der Rolle ihrer Tante Adriana in der Diktatur unter Pinochet nach und bricht damit den „Pakt des Schweigens“. Ihr Film hat eine klare Haltung, behauptet aber nicht, die Wahrheit zu kennen. Seine Spannung gewinnt der Film aus den wachsenden Zweifeln an der geliebten Tante. Die Regisseurin geht der Wahrheit auf den Grund und erliegt dennoch nicht der Versuchung, vorschnell zu urteilen. Sie überlässt es den Zuschauern, eigene Schlüsse zu ziehen.
Gesellschaftlicher Frieden beginnt mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Diese sehr persönliche und schmerzliche Auseinandersetzung mit ihrer Familie und der Geschichte Chiles beweist außergewöhnliche Courage.
Eine unabhängige, vom Trägerkreis des Friedensfilmpreises berufene Jury hat sektionsübergreifend Filme gesichtet und einen Film ausgezeichnet, der in besonderer Weise das friedliche Zusammenleben fördert. Der Preis ist mit
5.000 € dotiert und wird am 19. Februar in Form einer von Otmar Alt geschaffenen Bronzeplastik überreicht.
Mehr zur Jury hier: https://www.boell.de/de/2017/01/11/friedensfilmpreis-2017-die-jury?utm_campaign=knm
33. Friedensfilmpreis bei der 68. Berlinale

Anlässlich der 68. BERLINALE wird der 33 Friedensfilmpreis verliehen. Es ist der einzige Preis dieser Art bei einem „A“ Festival und mit 5.000 € dotiert. Er wird in Form einer von Otmar Alt gestalteten Bronzeplastik übergeben.
Die Bekanntgabe des Preisträgers erfolgt am späten Abend des 23. Februar.
Preisverleihung: Sonntag, 25. Februar 2018 um 17 Uhr im Hackesche Höfe Kino. Der Vorverkauf beginnt (wird noch bekannt gegeben)
Pressekontakt: Martin Zint, presse@friedensfilm.de, 0170 3812822
Die Jury 2017
- Foto Stephan Röhl
Der Trägerkreis des Friedensfilmpreises (Heinrich Böll Stiftung, Friedensinitiative Zehlendorf, Weltfriedensdienst e.V.) hat eine kompetente Jury berufen, die aus allen Berlinale-Beiträgen bereichsübergreifend den Preisträger 2017 auswählt. Dazu werden bis zu 50 Filme gesichtet.
Mitglieder der Friedensfilmpreis Jury 2017 sind (v.l.n.r.) Miraz Bezar / Drehbuchautor und Theaterregisseur, Till Passow / Regisseur und Dokumentarfilmer, Helgard Gammert / Betreiberin des Bali-Kinos Berlin, Teboho Edkins / Filmkünstler und Dokumentarfilmer, Ulrike Gruska / Journalistin, Pressereferentin bei Reporter ohne Grenzen, Yael Inokai / Autorin, Burhan Qurbai / Regisseur, Filmemacher.
Mehr zur Jury hier: https://www.boell.de/de/2017/01/11/friedensfilmpreis-2017-die-jury?utm_campaign=knm
Die Jury 2016
- Foto: Stephan Röhl
Der Friedensfilmpreis Jury 2016 gehören an (v.l.n.r.):
Michael Kotschi, Helgard Gammert, Ulrike Gruska, Yael Reuveni, Teboho Edkins, Matthias Coers, Lena Müller
Die Jury 2015

"Das Schönste ist immer das erste Kennenlernen, und man merkt dass man sich auf einer Ebene trifft. Und dass man ganz, ganz neugierig wird. Sich auf eine ganze Gruppe von sehr unterschiedlichen Leuten einzulassen, und jeder bringt seine Geschichte mit und seine Sichtweise oder Sehweise von Filmen."
Helgard Gammert, Jurymitglied im Interview. hier: das gesamte Interview
Die Jury v.l.n.r.: Claudia Gehre, Anna Sofie Hartmann, Martin Zint, Lena Müller, Katrin Schlösser, Ruth Marianne Wündrich-Brosien, Michael Kotschi, Helgard Gammert, Andreas Altenhof